Manifest

Südtirol 2019: ein Manifest

I.

Grundlegendes

Heimatrecht und Mitgestaltung

Alle Menschen, die sich in Südtirol/Alto Adige rechtmäßig und auf Dauer aufhalten, haben dieselben Rechte und Pflichten, unabhängig von Sprache, Kultur und Herkunft.

Aus der Vielschichtigkeit der Geschichte unseres Landes ergeben sich zwei Einsichten:

– die Autonomie ist die Grundlage zur Regelung und Gestaltung unserer pluralistischen Gemeinschaft;
– die Konsensfindung ist die Methode zur Lösung von Alltagsfragen und Konflikten zwischen den Sprachgruppen.

Verständnis und Respekt

Geschichte und Traditionen der in Südtirol/Alto Adige lebenden Sprachgruppen sind Ursache für Konflikte, aber auch eine Chance für Begegnung und gemeinsames Wachsen. Nur das Wissen um diese Unterschiede und das Verstehen und Respektieren der damit verbundenen Empfindungen ermöglichen es, Konflikte zu vermeiden, mit ihnen vernünftig umzugehen und sie zu überwinden. Eine solche Haltung fördert auch die Integration der neuen Bürger.

Identität und Vielfalt

Die Identität der Einzelnen und das Selbstverständnis der Sprachgruppen sind Ausgangspunkt für eine gemeinsam zu gestaltende Zukunft. Identität ist kein starres Gerüst, sondern unterliegt stetem Wandel. Das Wissen darum fördert die Bereitschaft, sich zu verändern, und die Möglichkeit, die Richtung der Veränderung zu bestimmen. Die eigene Identität zu pflegen und zu entwickeln heißt auch, offen zu sein für Beziehungen zu anderen Identitäten.

II.

Wege

1. Reichtum Mehrsprachigkeit

Voraussetzung für ein gutes Zusammenleben und Zusammenwirken aller Menschen in Südtirol/Alto Adige ist Mehrsprachigkeit auf möglichst hohem Niveau.

  • Wir vertiefen die Kenntnisse der eigenen Muttersprache und empfinden das Erlernen weiterer Sprachen als eine wichtige Bereicherung;
  • wir bemühen uns, die zweite Landessprache möglichst vollständig zu erlernen oder sie auf jeden Fall in Wort und Schrift zu verstehen;
  • wir fordern, dass die geltende Regelung der Zweisprachigkeit im öffentlichen Dienst verbessert wird. Die im öffentlichen Dienst Beschäftigten müssen Italienisch und Deutsch so umfassend beherrschen, dass sie ihren Amtspflichten uneingeschränkt nachkommen können;
  • wir sind für die Stärkung des Stellenwerts des Ladinischen in der Südtiroler Gesellschaft; die Schaffung einer einheitlichen ladinischen Amtssprache ist notwendig. Die unterschiedlichen Talschaftsidiome sollen, auch im schulischen Unterricht, weiterhin gepflegt werden;
  • unsere neuen Mitbürger sollen beim Erlernen der Sprachen des Landes wirksam unterstützt werden.

Schritte dorthin:

– Wettbewerbe zur Aufnahme in den öffentlichen Dienst sollen nach Methoden durchgeführt werden, die nicht nur der Überprüfung der fachlichen Eignung der Bewerber, sondern zugleich auch der Feststellung der sprachlichen Kompetenz in Wort und Schrift dienen;

– die Wettbewerbskommissionen sind in ausgewogener Zahl aus Angehörigen der deutschen und der italienischen Sprachgruppe zusammenzusetzen, die selbst angemessen zweisprachig sind. In den ladinischen Tälern soll auch ein Vertreter der ladinischen Sprachgruppe der Kommission angehören.


2. Gemeinsame Kultur der Erinnerung

Nur die Kenntnis der eigenen Geschichte und der Geschichte der Anderen macht wechselseitige Verständigung möglich.

  • Wir bemühen uns darum, einseitige Geschichtsbilder zu überwinden. Die Aufarbeitung der Vergangenheit soll alle hier lebenden Sprachgruppen berücksichtigen und einbeziehen;
  • wir verstehen jedes geschichtliche Denkmal als Zeugnis seiner Zeit. Denkmäler, die aus dem Geist totalitärer Ideologien entstanden sind, sollen nicht abgetragen, sondern zu Mahnmalen umgewandelt werden;
  • wir verstehen historisch gewachsene Orts- und Flurnamen als gemeinsames Kulturgut aller drei Sprachgruppen; diese sind als amtliche Namen anzuerkennen. Auch später entstandene Bezeichnungen, die heute noch geläufig sind, sollen weiterhin offizielle Anerkennung finden.

Schritte dorthin:

– Geschichtsforschung soll sprachgruppenübergreifend sein; Initiativen wie Publikationen, Tagungen, Ausstellungen, Diskussionen, Dokumentarfilme usw. sind notwendig, damit das gewonnene Wissen Verbreitung findet und Teil des allgemeinen Bewusstseins wird;

– Denkmäler aus faschistischer Zeit sollen an ihren Standorten verbleiben und durch unübersehbare Zeichen und Tafeln mit Erläuterungen einem neuen Verständnis zugeführt werden;

–  auf Gedenkfeiern und Aufmärsche jeglicher Art vor Denkmälern aus totalitären Zeiten ist zu verzichten.


3. Bildung

Eine umfassende Bildung kann nur dann gelingen, wenn alle Bereiche vom Kindergarten bis zu Universität und Erwachsenenbildung in einem mehrsprachigen und interkulturellen Zusammenhang gesehen werden.

  • Wir verstehen alle Schulstufen als Orte für offene Bildung und wirksames Lernen;
  • wir wollen am Grundsatz der freien Wahl der Schule festhalten;
  • wir sind dafür, ein durchgängiges Angebot von Kindergärten, Grund-, Mittel- und Oberschulen in entweder deutscher oder italienischer Unterrichtssprache beizubehalten. Dazu stellen wir fest, dass das Angebot einer sprachlich gebundenen schulischen Einrichtung nur gewährleistet ist, wenn der Unterricht durch muttersprachliche Lehrkräfte erteilt wird und wenn die Lernenden in der weitaus überwiegenden Zahl die Unterrichtssprache beherrschen oder ihr zumindest problemlos folgen können;
  • wir gehen davon aus, dass sich in den ladinischen Tälern die Mehrsprachigkeit der schulischen Einrichtungen bewährt hat und dass diese beibehalten werden soll;
  • wir sehen es als vertretbar an, dass es jeder Sprachgruppe überlassen und gestattet sein soll, in der Schul- und Bildungspolitik auch eigene Wege zu gehen und zusätzliche Schulmodelle anzubieten.

Schritte dorthin:

– Der Besuch der gewählten schulischen Einrichtung soll an nachzuweisende Vorkenntnisse in der Unterrichtssprache gebunden bleiben;

– alle Kinder, die eine Schule mit einer Unterrichtssprache besuchen, die nicht ihrer Muttersprache entspricht, sollen durch Intensivkurse darauf vorbereitet und – sofern notwendig-  auch noch weiter gefördert werden;

– Austauschprogramme zwischen den Schulen zur Förderung sprachlicher Kompetenzen sind in jedes Schulprogramm einzubauen;

–  Beratungs- und Beobachtungsstellen für Spracherziehung sollen aktiviert werden.

4. Gemeinsame Gestaltung der Zukunft

Von ihrem historischen Ursprung her soll die dem Land Südtirol/Alto Adige gewährte Autonomie dem Schutz der deutschen und der ladinischen Sprachgruppe dienen. Die Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte haben gezeigt, dass auch die italienische Sprachgruppe für die autonome Gestaltung des Landes dieselbe Verantwortung mitzutragen hat. Das Autonomiestatut ist als dynamisches Instrument einer gezielten Absicherung und Förderung aller Sprachgruppen zu verstehen und einzusetzen, und die Bestimmungen des Statuts sind, soweit erforderlich, dieser besonderen Zielsetzung anzupassen.

Der ethnische Proporz und die Erklärung der Zugehörigkeit oder Zuordnung zu einer der drei Sprachgruppen des Landes haben sich in der Vergangenheit als hilfreiche Stützmaßnahmen für eine ausgewogene Berücksichtigung der verschiedenen Sprachgruppen erwiesen, erscheinen aber heute revisionsbedürftig.

  • Wir glauben, dass es weniger Proporz und mehr effektive Zwei- bzw. Dreisprachigkeit braucht. Es gibt Bereiche, in denen bereits in nächster Zukunft von einer Anwendung der Proporzregelung abgesehen werden sollte, beispielsweise bei der Vergabe von Richterstellen und von Stellen im Gesundheitswesen. Unverzichtbare Voraussetzung für die Besetzung solcher Dienststellen muss eine tatsächliche Zweisprachigkeit sein, die am besten im Rahmen der ausgeschriebenen Wettbewerbe zusammen mit der beruflichen Qualifikation festgestellt werden soll;
  • wir sind dafür, dass das System einer – im Wesentlichen willkürlichen und zu Missbrauch einladenden – namentlichen Erklärung der Zugehörigkeit oder Zuordnung zu einer der drei Sprachgruppen des Landes aufgegeben werden soll;
  • wir regen an, dass im Rahmen der Volkszählung alle Bürger zu rein statistischen Zwecken nach ihrer tatsächlichen Muttersprache befragt werden. Den Bürgern soll auch die Möglichkeit offen stehen, sich als „deutsch- und italienischsprachig“, „deutsch- und ladinischsprachig“ oder „italienisch- und ladinischsprachig“ zu definieren.

14 Antworten auf „Manifest

  1. Ich gratuliere den VerfasserInnen des Manifests Südtirol Alto Adige 2019. Hier wird eine wertvolle Arbeit geleistet. Es zeigt sich, dass in diesem Falle die Bevölkerung der Politik voraus ist. Dieser Vorsprung soll kommuniziert werden, nur so wird die Politik reagieren (müssen) und Details im Zusammenleben werden sich langsam verändern.

    Was ich gerne hinzufügen möchte:
    Unter anderem steht „Denkmäler, die aus dem Geist totalitärer Ideologien entstanden sind, sollen nicht abgetragen, sondern zu Mahnmalen umgewandelt werden.“ Da ich der Meinung bin, dass ein Denkmal, auch wenn es aus totalitärem Geist entstand, historisches Zeugnis und damit Spiegel einer Zeit ist, schlage ich vor, dass Denkmäler nicht „zu Mahnmalen umgewandelt werden“ (was ja einen Eingriff in die Struktur eines Denkmales impliziert und damit kulturhistorisch eine Inkohärenz wäre), sondern dass besagte Denkmäler bleiben wie und wo sie sind und mit Zusatzinfos und Erläuterungen versehen werden.

    Als wichtiges Ziel würde ich auch die Schaffung einer zweisprachigen Schule anführen (etwa nach dem Modell der bereits bestehenden paritätischen Schule in den ladinischen Tälern ). Ich glaube, dass genau in diesem Punkt die Bedürfnisse eines gar nicht kleinen Teiles der Bevölkerung ganz woanders liegen als jene der Politik.

    Weiters soll den Bürgern nicht nur die Möglichkeit offen stehen, sich als „deutsch- und italienischsprachig“, „deutsch- und ladinischsprachig“, oder „italienisch- und ladinischsprachig“ zu erklären, sondern auch als „ladinisch-deutsch-italienischsprachig“.

    Gute Weiterarbeit!

    Eduard Demetz

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